Stolperstein für
Berthold Cohen
Adresse: Dortmunder Straße 13
Erwin Deutsch wurde am 29. Januar 1918 in Berlin geboren. Er war der Sohn des 1897 in Brest-Litowsk (heute Brest in Weißrussland) geborenen Leiser Deutsch und der 1894 in Joachimsthal im brandenburgischen Angermünde geborenen Marie Deutsch, geb. Willing. 1920 kam Erwins jüngere Schwester Erna zur Welt.
Über die Kindheit und Jugend von Erwin Deutsch und seiner Schwester im Berlin der Nachkriegszeit und der Weimarer Republik haben sich kaum Informationen erhalten. Die Familie bewohnte ab 1919/20 eine Wohnung in der Gitschiner Straße 52 in Kreuzberg. Die Eltern betrieben von hier aus einen mobilen Handelsstand für Obst, Gemüse und Südfrüchte. Ab Mitte der 1920er Jahre besuchte Erwin Deutsch die Volksschule. Anschließend wurde er – um das Jahr 1931/32 – Schüler der Rackow-Schule in Berlin und begann eine dreijährige Lehrzeit zum Handelskaufmann. Nach Abschluss der Ausbildung arbeitete er ab Juli 1936 als kaufmännischer Angestellter bei der Früchteimportgesellschaft Schreiber & Co, die in der Neuen Friedrichstraße 76 ansässig war. An dem Standort war Erwin Deutsch Verkäufer, übernahm aber auch die Kalkulation, Lagerkontrolle und Führung der Lagerbücher.
1932/33 zog die Familie um. Die neue Wohnung lag – unweit der vorherigen – in der Prinzenstraße 33 in der dritten Etage im Vorderhaus. Unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 begannen Zwangsmaßnahmen gegen die Familie Deutsch. Leiser Deutsch wurde nach den Kriterien des NS-Staates als Jude verfolgt. Mit seiner nach NS-Jargon „deutschblütigen“ Ehefrau führte er eine sogenannte „Mischehe“, was ihm ab 1941 einen rudimentären und stets von Willkürakten bedrohten Schutz vor der Deportation bot. Erwin Deutsch und seine Schwester galten nach den „Nürnberger Rassegesetzen“ von 1935 als „Mischling I. Grades“. Die Familie trafen alle Maßnahmen, die darauf abzielten, Juden aus dem Bildungs- und Berufsleben zu verdrängen. Im Frühjahr 1933 wurde Leiser Deutsch die Gewerbeerlaubnis entzogen. Das Einkommen der Familie stützte sich nun auf die Handelskonzession seiner Ehefrau. Marie Deutsch wurde in der Folgezeit von der Gestapo mehrfach massiv unter Druck gesetzt, sie solle die Scheidung einreichen. Andernfalls – so lautete eine der Drohungen – würde man auch ihr die Gewerbegenehmigung aberkennen. Um sich diesem Zwang zu entziehen, meldete Marie Deutsch ihr Geschäft im Oktober 1938 ab.
Seit 1933 war Erwin eine höhe Schulbildung durch das „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ verwehrt, die er laut seiner Mutter anstrebte. Ab Juni 1936 unterstütze er mit einem Teil seines Einkommens seine Eltern und seine Schwester. Diese hatte Mitte der 1930er Jahre ihre Ausbildung abbrechen müssen. Im Mai 1937 wurde der Betrieb, bei dem Erwin Deutsch beschäftigt war, „arisiert“. Noch einmal konnte er eine neue Anstellung finden: Er arbeitete im Obst- und Südfrüchtegrosshandelsgeschäft Josef Schreiber in der Zentralmarkthalle Alexanderplatz – dem Geschäft des Vaters seines ehemaligen Arbeitgebers – bis auch dieser im April 1938 aus „wirtschaftlichen Gründen“ gezwungen war, das Geschäft aufzugeben.
Ab 1941 mussten Erwin Deutsch und sein Vater Zwangsarbeit leisten. Erwin wurde als Kohlenarbeiter in der Hütte Pankow, Schulzestraße 8-11, bei der Verhüttung eingesetzt. Bei welcher Firma Leiser Deutsch beschäftigt war, konnte nicht ermittelt werden. In späteren Aufzeichnungen wird eine Firma Barth in Berlin genannt. Erwins Mutter verdiente in dieser Zeit durch Gelegenheitsarbeiten ein Zubrot. Auch Erwins Freundin Edith Ganz, die 1920 in Memel (heute Klaipėda in Litauen) geboren worden war, musste ab 1941 Zwangsarbeit als Näherin leisten. Im Dezember 1941 heiratete das Paar auf dem Standesamt Kreuzberg und Edith zog in die Wohnung in der Prinzenstraße.
Hier lebten Erwin und Edith Deutsch unter schwierigsten Bedingungen bis zum Juni 1943, als sie von der Gestapo aus ihrer Wohnung in das Sammellager Große Frankfurter Straße verschleppt wurden. Am 29. Juni 1943 wurden sie mit dem 92. Alterstransport in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Nach etwas mehr als einem Jahr im Ghetto wurden sie getrennt voneinander weiter in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert: Erwin am 29. September, Edith am 1. Oktober 1944. Edith Deutsch wurde in Auschwitz ermordet.
Mit dem angesichts der herannahenden Roten Armee einsetzenden Abbruch des Vernichtungslagers im Spätjahr 1944 wurde Erwin Deutsch erneut deportiert. Mit dem Transport vom 10. Oktober wurde er in das Konzentrationslager Dachau verschleppt, wo er im Außenlager Kaufering IV am 27. April 1945 durch amerikanische Truppen befreit wurde. Zuvor hatten abziehende SS-Truppen das Lager mitsamt den nicht mehr gehfähigen Häftlingen in Brand gesetzt. Erwin Deutsch erlag am 25. Mai 1945 im bayerischen Fürstenfeldbruck den unmittelbaren Folgen der KZ-Haft. Er wurde 27 Jahre alt. Sein Vater, seine Mutter und seine Schwester überlebten.
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Biographische Zusammenstellung / Autor:
Indra Hemmerling
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Quellen:
- Gedenkbuch. Online unter: bundesarchiv.de/gedenkbuch (aufgerufen am 15. Mai 2022).
- Berliner Adressbücher 1930–1943; Jüdisches Adressbuch für Gross-Berlin 1929/1930 und 1931/1932. Amtliches Fernsprechbuch für Berlin 1932, 1934, 1936–1941. Online unter: zlb.de (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Akte zu Berthold Cohen aus dem Bestand des Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg im Brandenburgischen Landeshauptarchiv.
- Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin Abt. I. Entschädigungsakte zu Berthold Cohen und Else Cohen.
- Opferdatenbank Yad Vashem. Central DB of Shoah Victims’ Names. Online unter: http://yvng.yadvashem.org (aufgerufen am 26. Juli 2022). Page of Testimony zu Berthold Cohen erstellt von Anni Lichtenfeld; Page of Testimony zu Berthold Cohen erstellt von Arie Kohen.
- Fotografie von Berthold Cohen. Fotosammlung Yad Vashem. Online unter: https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=14227822&ind=0 (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Ergänzungskarten für Angaben über Abstammung und Vorbildung aus der Volkszählung vom 17. Mai 1939 im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (Bestand R 1509).
- Karteikarte zu Berthold Cohen. Berliner Kartei. American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC). Online unter: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/11226231?s=Berthold%20Cohen&t=2575183&p=0 (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Deportationslisten. Reproduktion im National Archives and Records Administration, USA, Signatur A3355: Berthold Cohen, „11. Osttransport“ (Lfd-Nr. 189); Else Cohen, geb. Stern (Lfd-Nr. 190). Online unter: statistik-des-holocaust.de (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Todesanzeige Betty Cohen, geb. Beer (Nr. 137, Soest am 2. Juni 1877); Bertha Cohen, geb. Beer (Nr. 5, Soest am 3. Januar 1910); Berthold Cohen (Nr. 194, Soest am 21. September 1925). Sterberegister Soest. Landesarchiv NRW. Online unter: https://www.landesarchiv-nrw.de/digitalisate/Abt_Ostwestfalen-Lippe/P6/P6-20.html (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Todesfallanzeige Bertha Rosenfeld, geb. Cohen in der Opferdatenbank Theresienstadt. Online unter: holocaust.cz (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Eintrag zu Berthold Cohen in der Familiendatenbank Juden im Deutschen Reich. Online unter: https://www.online-ofb.de/famreport.php?ofb=juden_nw&ID=I323138&modus=&lang=de (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Eintrag zu Berthold Cohen Beer. Datenbank Ancestors FamilySearch. Online unter: https://www.familysearch.org/tree/person/about/LRBL-Y7Y (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Eintrag zu Rosa und Amalie Cohen. Stolpersteine NRW. Gegen das Vergessen. Online unter: https://stolpersteine.wdr.de/web/de/stolperstein/6615 (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Eintrag zu Berthold Cohen in der Genealogie-Datenbank Geni. Online unter: https://www.geni.com/people/Berthold-Cohen/6000000175446706879 (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Soest (Nordrhein-Westfalen). Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden im deutschen Sprachraum. Online unter: https://www.jüdische-gemeinden.de/index.php/gemeinden/s-t/1821-soest-nordrhein-westfalen (aufgerufen am 26. Juli 2022).
- Michael Brocke: Der jüdische Friedhof in Soest. Eine Dokumentation in Text und Bild, Soest 1993. Nr. 146 [Grabstein für Bertha Cohen, geb. Beer].
- Eintrag zum Unternehmen „Brasch & Rothenstein“. Jüdische Gewerbebetriebe in Berlin 1930–1945. Datenbank der HU-Berlin. Online unter: https://www2.hu-berlin.de/djgb (aufgerufen am 26. Juli 2022).